Im Wohnzimmer des einstigen Hannover 96-Stars Hakan Bicici fliegen die Wellensittiche frei herum und zwitschern, seine Mutter Fatma steht in der Küche und bereitet das Essen vor. Bicici sitzt in seinem Stuhl und beobachtet das Geschehen. Es scheint, als würde er jeden Moment aufstehen und etwas sagen. Doch das kann er nicht.
Seit zehn Jahren ist der frühere Fußball-Profi im Wachkoma. Bei einem schweren Autounfall in der Türkei am 26. November 2012 erlitt er Verletzungen am Kopf, innere Blutungen sowie Bein- und Rippenbrüche. „Er war ja praktisch in der Hälfte durch“, sagt Tante Hülya Häseler. Die Türkin ist nur einige Jahre älter als ihr Neffe. Aufgewachsen sind Bicici und sie „wie Geschwister“. Zwölf Tage vergingen damals, ehe der damals 42-Jährige nach seinem Unfall aus der Türkei nach Deutschland geflogen und dort behandelt wurde.
Seitdem wird der frühere Mittelfeldspieler von seiner Familie gepflegt, allen voran von seiner Mutter Fatma Bicici. Die 70-Jährige wohnt mit ihrem Sohn in einer barrierefreien Wohnung in Hannover. Neben dem Pflegedienst und den regelmäßigen Besuchen weiterer Familienmitglieder kümmert sie sich alleine um ihn. Sie streicht ihm sanft über die Haare und spricht in einem so liebevollen Ton zu ihrem 52 Jahre alten Sohn, dass sein Blick sie nicht mehr loslässt. „Hallo Spätzchen“, sagt Mutter Fatma zu ihm. „Gib mir einen Kuss“, flüstert sie ihm auf Türkisch zu. Ihr Sohn fixiert sie mit seinem Blick.
Bicicis Familie kam 1965 aus der Türkei nach Deutschland. Er war einer der ersten Spieler in Hannover mit Migrationshintergrund, die es in den Profi-Fußball schafften. Der wichtigste Club seiner Karriere war Hannover 96. Für die Niedersachsen stand er in 82 Zweitliga-Spielen auf dem Platz. Weitere Stationen waren TuS Celle FC, Eintracht Braunschweig sowie die türkischen Clubs Antalyaspor und Gençlerbirligi Ankara.
Bicici war bekannt als Dribbelkünstler. Eine Eigenschaft, an die sich noch heute der ehemalige Braunschweig-Trainer Benno Möhlmann erinnert: „Er war ein toller Fußballer, technisch sehr beschlagen und dribbelstark. Er hat uns in dem Jahr in Braunschweig sehr geholfen“, sagt der 68 Jahre alte Ex-Trainer. Bei Begegnungen mit gegnerischen Mannschaften habe ihn die Anerkennung Bicicis durch andere Spieler besonders beeindruckt. „Egal gegen wen wir damals in der Regionalliga gespielt haben: Wenn beim Gegner auch ein oder mehrere Spieler mit türkischen Wurzeln dabei waren, hatten die vor Hakan immer einen großen Respekt“, sagt Möhlmann. „Er hatte es in den Profi-Fußball geschafft, deshalb genoss er eine starke Anerkennung.“
Bicicis Familie war immer sehr stolz auf seine Leistung, besonders der Großvater: „Sein Opa kam zu jedem Spiel. Er fuhr sogar mit dem Taxi, auch wenn er damit bis nach Bremen fahren musste“, erinnert sich Bicicis Tante zurück. Auch heute hat die Familie die Faszination für den Fußball nicht verloren. Regelmäßig besuchen sie 96 bei Heimspielen.
Auch ins Theater oder zu Konzerten geht die Familie gemeinsam und unternimmt mit Bicici vieles, was er früher schon gerne gemacht habe. Sie beobachten dann manchmal, dass er darauf reagiere und aufmerksam zusehe. Auf einigen Sportplätzen sei Bicici heute noch bekannt. Die Familie hat derzeit noch Kontakt zu Frank Obermeyer, dem Teamchef der Traditionsmannschaft, und dem ehemaligen 96-Mittelfeldspieler Martin Groth. „Der kommt immer wieder alle paar Monate, um ihn zu besuchen. Aber er geht auch immer ein bisschen traurig wieder raus“, sagt Häseler.
Auch Bicicis Tochter sei regelmäßig zu Besuch. Auf ihren Namen reagiere er sehr stark. Wenn seine Familie über sie spricht, vergrößere er die Augen und ziehe die Brauen weit hoch. „Wenn sie nicht vorbeikommen kann, machen sie Video-Calls“, berichtet Häseler.
Viele Therapien hat Bicici schon durchgemacht. Neben den regelmäßigen Terminen bei Logopädie, Ergo- und Physiotherapie hat die Familie bereits mehrere ausgefallene Versuche wie Trainings in der Slowakei oder Delfintherapie in der Türkei unternommen. Auch wenn sie für den Moment Erfolge brachten, so hielten sie nicht langfristig.
Der Familie gehe es darum, dem Ex-Fußballer eine höhere Lebensqualität zu verschaffen. Seine Tante berichtet von Situationen im Stadion, in denen Bicici sich in einer Gruppe von stehenden Menschen befindet, die alle um ihn herum versammelt sind. „Wie das Häschen in der Grube“, beschreibt sie dieses Geschehen. „In dem Moment merke ich ja, er fängt zu schwitzen an, sein Kopf wird ganz rot, sein Körper reagiert.“ In diesen Situationen seien Hilfsmittel wie ein elektrischer Stuhl, in dem er sich aufrichten kann, eine wahre Hilfe.
Auch wenn medizinisch bisher nicht festgestellt werden konnte, ob und wie viel Bicici von seiner Umgebung mitbekommt, so ist sich seine Familie sicher: „Ich glaube nicht daran, dass er nichts mitbekommt“, sagt Hatice Moormann, die andere Tante. Wenn ihm etwas zu viel wird, schließe er einfach die Augen. Er grinst, hält die Hand seiner Mutter oder weint auch manchmal, berichtet Hülya Häseler. Dadurch komme es immer wieder zu Interaktionen mit ihm, die seine Familie glücklich machen.
Zeitweise scheint es so, als wolle Bicici teilnehmen am Gespräch, als würde in jedem Moment etwas aus seinem Mund kommen. Doch es geschieht nicht. Gelegentliche Geräusche und Huster zeigten, dass er da ist. „Das passiert nicht auf Knopfdruck“, stellt Häseler klar. Doch es sei wichtig zu verstehen, dass Hakan Bicici noch da ist. „Er ist warm und sein Herz schlägt“, sagt sie. Und dabei schaut sie ihrem Neffen tief in die Augen. Und er schaut zurück.